Leseprobe

 

Im Kindergarten ging ich schnurstracks zum „Bäbbi-Egge“ und spielte hingebungsvoll. Ich erinnere mich auch an „Gspänli“ – zwei Mädchen, jedes leidenschaftlich mit ihren Puppen beschäftig – ich habe gern Mutter, Kind, Mann gespielt, während meine „Gspänli“ unheimlich gut die Puppen ausschimpfen konnten. Da war eine Mischung von Faszination und Abscheu, wenn ich verstohlen „rüber“ schaute aber eigentlich doch ziemlich sicher war, dass meine Art zu spielen besser war. (Das der gnadenlose Vergleich, den wir uns Frauen antun, schon damals voll vorhanden war, finde ich bemerkenswert. Dies nur so nebenbei.)

Es war ein Thema (zumindest bei den Erwachsenen), dass meine Kindergärtnerin noch unverheiratet war, damals hiessen ledige Frauen noch Fräulein. Mein Single-Fräulein war fortschrittlich, sie nahm Autofahrstunden und sie hatte dafür spezielle Schuhe (damit sie nicht vom Pedal rutscht). Sie wurde jeweils pünktlich vom Fahrlehrer abgeholt. Dieser Teil gefiel mir am besten. Autofahren lernen– okay – das kann jede und jeder aber abgeholt werden, das bedingt ein anderer …

Ich weiss noch, dass ich nicht freiwillig meine Puppen-Familie verliess, bis unser Fräulein eines Tages ankündigte, dass wir eine Vorstellung geben. Wir würden ein Märchen vorführen. Die Frage, wer das Dornröschen spielt, versetzte mich in Höchstleistung. Es gab eine Ausscheidung. Ich erinnere mich nicht mehr an die Details, sondern nur noch daran, dass ich einfach WUSSTE, dass es so kommen würde, wie es kam. Offenbar ist etwas aus mir herausgekommen, denn mein Fräulein rief zu Hause an und sagte: „… sie ist sehr begabt.“

Meine Mutter hat dies stolz zur Kenntnis genommen, ich erinnere mich genau, weil dies eines der wenigen Male war. Sogar meine Grosseltern mütterlicherseits besuchten die Vorführung. Ich glaube es war das einzige Mal, dass irgendwer aus der Familie an irgendetwas von mir teilgenommen hat.

Meine Realität stand im krassen Gegensatz zur Geschichte vom Dornröschen, welches sehr beschützt und behütet aufwuchs, dabei spielte sein Vater, der König, eine wesentliche Rolle. Auf jeden Fall erinnere ich mich, dass

die Vorführung für mich überhaupt nicht gut war. Schuld daran war der Prinz. Der Prinz – alias Seppi – fand Mädchen küssen doof. Er weigerte sich und durfte trotzdem der Prinz bleiben. Dabei war es doch offensichtlich, dass das nicht gut ausgehen konnte. Ein Prinz, der kein Prinz sein will, ist einer, der seiner Aufgabe nicht gerecht wird, ein solcher sollte Platz für einen „echten“ Prinzen machen.

Wir übten. Seppi war eben Seppi und kein Prinz und machte mal wieder einen Aufstand wegen des Küssens. (Noch einmal: Wie doof ist der denn, der meint es ginge dabei ums Küssen, na ja es ging schon ums Küssen und eben doch nicht!!!). Dornröschen schlafend, hoffend endlich wach zu werden, er schreitet auf es zu und dreht sich auf stehenden Fusses um und rennt davon. Ich – Entschuldigung – das Dornröschen, rennt ihm nach.

Ein Prinz, der flieht, das geht gar nicht. Seppi machte ein Spiel daraus, „fang mich doch – fang mich doch“. Mir ist es aber sehr ernst. Entsetzt und wütend, dass er sich nicht an die Aufgabe, an die Regeln, an die Abmachung hält, springe ich ihm hinterher und rufe:„Aber du musst!“

Die Vorführung

Seppi hat sich durchgesetzt. Es gab kein Entgegenkommen. Kuss auf die Lippen, sicher nicht. Kuss auf die Wange (!!!), nein. Ein liebloser, gepfuschter Hand-Kuss, das war’s. Keine Sehnsucht, kein Wollen, keine Liebe, kein sich Erkennen, keine Zuwendung, kein mit-, für-, und zueinander, keine Zärtlichkeit, keine Hingabe, keine Erlösung.

Meine Schmach war gross. Ebenso die Enttäuschung und es machte mich fassungslos. Niemand hatte Seppi korrigiert, niemand mir geholfen. Das hätte so nicht passieren dürfen, das wusste ich. Noch einmal: Der Kuss hat eine wesentliche Bedeutung, da gehtes um Transformation, um Leben und Tod. Also wirklich wichtige Dinge. Dieser Kuss hätte Erlösung bedeutet. Es war für mich unbegreiflich, dass er damit durchgekommen ist, sich nicht an die Regeln und Aufgabe halten musste, ich stand alleine da.

Mein *richtig* wurde weder gesehen, noch gewürdigt, sondern schlicht und einfach übergangen und nicht ernst genommen. Im besten Fall, fand man mich „herzig“ weil ich wollte, dass mich der doofe Seppi küsst. Im schlimmeren Fall, fand man mein Verhalten ungebührlich. Einem Jungen nachrennen, das macht man nicht. Einen Kuss einfordern, schon gar nicht. Man hat zu nehmen was man kriegt – so und nicht anders ist das, als Mädchen, sogar als Dornröschen. Diese Lektion sass.

Natürlich war die Vorführung nicht wirklich gut, wie hätte sie auch sein sollen, wenn dabei der wichtigste Part der Geschichte kurzerhand ein schlechtes Ende nahm? Ich erinnere mich an die Trauer und den Moment als ich klein beigab und aus „Ich bin richtig … oh, dann bin ich wohl doch nicht richtig“ wurde. Das war eine Entscheidung die mein Leben sehr wohl beeinflusste.

Ich versuchte die Erwartungen anderer Leute zu erfüllen, um immer wieder die Erfahrung zu machen, dass dies mir einfach nicht gelingen wollte. Es dauerte den gefühlten 100-jährigen Schlaf, bis ich erkennen konnte, dass die Erlösung, die ich so sehnlich wie unerfüllt erwartet habe, nicht von aussen kommt. Nicht von aussen kommen kann, denn es gibt nichts in der Natur, das nicht von innen nach aussen wächst (indianische Weisheit).

Ich bin das Dornröschen. Ich bin der Prinz. Ich bin der Kuss und die Erlösung!

Viele Jahre habe ich diese Geschichte, wenn ich mich überhaupt an sie erinnerte auf die lustige Art und Weise erzählt. Im Stil von … ja, der Seppi … und kannst du dir vorstellen, er wollte mich nicht küssen, haha, haha. Ach ja, und er hat mich nicht erlöst, haha, haha.

Es dauerte Jahre, bis ich mir selber zugeben konnte, dass es eben gar nicht lustig war. Der Druck über das Kleine hinwegzugehen, so zu tun also ob nie jemals etwas für mich Ungeheuerliches passiert wäre, war gross. Es hat eine Menge von Küssen gebraucht, bis ich den Mut hatte, für mich einzustehen. Eine weitere Unzahl von Küssen waren notwendig mir Mut zu machen, mir zuzutrauen auch andere wach zu küssen. Dies mit einer liebevollen, warmen, sorgsamen innigen Umarmung und mit den Worten begleitend: Ich sehe dich. Ich will dich. Komm, wir gehen spielen.

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